Hintergrundpapier zur Ausstellung

Was bleibt von mir, wenn ich nicht mehr bin? Diese Frage beschäftigt Menschen seit jeher. Darüber offen zu sprechen, ist für viele jedoch noch immer ein Tabu. Dabei ist das Thema aktueller denn je: In Deutschland wird derzeit so viel Vermögen an die nachfolgende Generation weitergegeben wie nie zuvor. 3,1 Billionen Euro werden laut Deutschem Institut für Altersvorsorge von 2015 bis 2024 vererbt. Und immer mehr Menschen möchten mit ihrem Erbe nicht nur diejenigen versorgen, die ihnen nahestehen. Die repräsentative Umfrage „Gemeinnütziges Vererben in Deutschland“ der Gesellschaft für Konsumforschung zeigt: Bereits jede und jeder dritte Deutsche ab 50 Jahren kann sich vorstellen, einen Teil des Nachlasses auch einem guten Zweck zukommen zu lassen. Bei denjenigen, die keine Kinder haben, ist es sogar mehr als die Hälfte. Ihre Beweggründe: Werte weitergeben und das Erbe nachhaltig anzulegen Aber auch das Bedürfnis, der Gesellschaft etwas zurückzugeben, weil es einem selbst recht gut ergangen ist.

Die Initiative „Mein Erbe tut Gutes. Das Prinzip Apfelbaum“ möchte einen öffentlichen Dialog anregen, ein offenes Nachdenken über die Frage „Was bleibt?“. Den Auftakt bilden die Fotoausstellung „Das Prinzip Apfelbaum“ und das gleichnamige Buch. Elf Persönlichkeiten, darunter Egon Bahr, Wim Wenders, Anne-Sophie Mutter und Friede Springer, gewähren darin sehr persönliche Einblicke und Gedanken.

Was ist „Das Prinzip Apfelbaum?“

Verantwortungsvoll zu leben und die Welt nach den eigenen Werten mitzugestalten, ist für viele von uns mehr als eine Herzenssache. Es ist ein Grundsatz für das Denken und Handeln zu Lebzeiten, ein Wert, der über den Tod hinaus Bestand hat. Und immer mehr Menschen, vor allem Menschen, die keine Kinder haben, fragen sich: „Was wäre mein letztes Geschenk an die Welt?“ – Über sich selbst hinausdenken, die Welt auch für nachfolgende Generationen zu einem besseren Ort zu machen und etwas Bleibendes zu schaffen, das ist „Das Prinzip Apfelbaum“.

Der Apfelbaum symbolisiert den Zyklus von Leben, Tod, neuem Leben und Wachstum: Man pflanzt ihn im Herbst, er ruht im Winter, um im Frühling mit neuer Kraft zu erblühen. Im Herbst sind neue Früchte zu ernten. Auch ein Erbe für einen guten Zweck – egal, ob groß oder klein – trägt Früchte. Immer wieder. Schon heute bedenken viele Menschen eine gemeinnützige Organisation oder Stiftung in ihrem Testament. Dies bietet ihnen eine Möglichkeit, dafür zu sorgen, all das zu erhalten, was ihnen im Leben wichtig ist. Viele andere wissen allerdings nicht, wie sie sich diesem Gedanken nähern oder ihn in die Tat umsetzen können. Grund genug und Ermutigung für gemeinnützige Organisationen und Stiftungen, sich zu der gemeinsamen Initiative „Mein Erbe tut Gutes. Das Prinzip Apfelbaum“ zusammenzuschließen.

Die Ausstellung: Ein Fotoessay, das innehalten lässt

Elf Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft hat die Initiative gewinnen können, sich mit großer Offenheit auf die Frage „Was bleibt?“ einzulassen. Die Fotografin Bettina Flitner – seit über 20 Jahren für ihre eindringlichen Fotokonzepte bekannt und für ihre Portraitserien und Fotoessays vielfach ausgezeichnet – versteht es, uns diese bekannten Menschen auf einfühlsame Weise nahe zu bringen. Dazu nutzt sie die Kunstform des Triptychons. Bettina Flitner zeigt die Personen einmal im Portrait, in Gedanken mit dem eigenen Sein und der Welt beschäftigt, den Blick in die Ferne gerichtet. Dann setzt sie sie als Teil der Welt in Szene. Die von den Portraitierten selbst ausgewählte Umgebung gewährt uns einen neuen, oft über-raschenden Zugang zu ihnen. Vervollständigt werden die beiden Fotomotive von einer Texttafel mit einem Zitat der Protagonisten, einem Gedanken über das jeweilige Leben und Werk. So vermitteln die entstandenen Triptychen eine ganz eigene Stimmung voller Zwischentöne. Sie reflektieren Vergänglichkeit und Verletzlichkeit, Klugheit, Witz und Lebenslust. Als Ausstellung werden die Bilder in den kommenden Jahren in ganz Deutschland zu sehen sein und damit den Diskurs anregen.

Das Buch: Persönliche Einblicke in die Gedanken, Hoffnungen und Wünsche

Die im gleichnamigen Buch veröffentlichten Texte ergänzen die Ausstellung. Sie folgen keinen vorgefertigten Statements. Sie gewähren sehr persönliche Einblicke in die Gedanken, Hoffnungen und Wünsche der elf Portraitierten. Die Texte sind verdichtete Aufzeichnungen der Gespräche zwischen der Fotografin und ihnen. Der Leser entdeckt ein offenes Nachdenken: „Was habe ich aus meinem Leben gemacht? Was habe ich bewirkt? Was ist mir wichtig? Was möchte ich weitergeben?“

„Ich wollte das mir Mögliche tun, damit es nie wieder Krieg gibt“, resümiert zum Beispiel der SPD-Politiker Egon Bahr, „mein Beitrag dazu war das Viermächteabkommen für Berlin.“ Man habe damals ein Tabu gebrochen, das Undenkbare zu denken gewagt und danach gehandelt. Das sei das, was Bestand haben werde, „die Vision der Versöhnung, die Hoffnung, dass Geschichte im Guten, im Besseren weitergeht.“

Auch Richard von Weizsäcker sucht das Bleibende in seinem Verstehen und Bemühen um die Versöhnung in der deutschen Geschichte. „Die Begegnungen mit den verschiedensten Menschen gaben mir Antrieb und halfen, meinen Blick zu schärfen und Wege aufzuzeigen. Selbst einen solchen Impuls gegeben zu haben, der weiterträgt, das hoffe ich zuversichtlich.“

Aus den eigenen Erfahrungen lernen und Wissen weitergeben, sieht Günter Grass im Rückblick als Kern seines Werkes: „Wir Menschen haben die Gabe, Lektionen, die uns die Geschichte erteilt hat, zu begreifen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Das habe ich versucht, in meinen Büchern zu erzählen und weiterzureichen.“ Zeitlebens habe er sich dafür gegen Kritik verteidigen müssen.

Widerstände kennt auch Friede Springer. Obwohl nur wenige ihr die Leitung des Verlags zugetraut hätten, habe sie nie an Rückzug gedacht: „Der Verlag war das Lebenswerk von Axel Springer, und das galt es zu erhalten und zu gestalten. Das war mein Motor“, blickt sie zurück. „Ich lebe nach dem Prinzip Apfelbaum. Nicht aufgeben! Dazu braucht man Mut. Man muss an die eigenen Fähigkeiten glauben. Und man braucht ein Ziel, an dem man sich ausrichten kann.“

Mut und ein eigenbestimmtes Leben sind auch für Christiane Nüsslein-Volhard entscheidend: „Was ich versuche, an meine Mitarbeiter weiterzugeben: Sie sollen unabhängig denken. Nicht Moden nachlaufen. Man muss schon den Mut haben, was zu machen, was noch keiner gemacht hat. Und dazu stehen.“, sagt die Medizin-Nobelpreisträgerin.

Allen gemein ist eine Hinwendung zum Leben: „Wenn ich den Tod als das selbstverständliche Ende meines Daseins annehme, kann ich mein Leben viel besser ausfüllen. Ich habe nichts versäumt.“, sagt zum Beispiel Reinhold Messner. „Ich weiß genau, wo ich herkomme. Und ich weiß sehr genau: Meine Zeit ist knapp geworden. Deshalb bin ich nicht in Eile.“

Und Margot Käßmann ist sich sicher: „Für mich ist der Tod kein Punkt, sondern ein Doppelpunkt. Ich bin überzeugt, dass danach noch etwas kommt. Was das ist, weiß ich nicht. Aber in Offenbarung 21 heißt es: ,Dann werden alle Tränen abgewischt und Not, Leid, Geschrei und der Tod haben ein Ende.’ Mit dieser Hoffnung lebe ich.“

Der Sinn des Lebens liegt für Anne-Sophie Mutter darin, die Seele zu verströmen, bevor der letzte Atemzug verhaucht sei. Was von ihr bleiben soll? „Eigentlich nichts“, sagt die Violinistin. „Dass es mir manchmal gelingt, das Leben anderer zu berühren, es vielleicht etwas zu verbessern – das ist Teil meines Lebenssinns. Und dass sie wissen, es gibt jemanden, der an sie denkt, für den sie nicht egal sind. Dieses Wissen, das soll bleiben.“

Es gehe nicht darum, als Person in Erinnerung zu bleiben, meint auch Reinhold Messner: „Ich gebe mein Wissen weiter. Denn wenn Wissen verloren geht, reißt der Faden zwischen dem Gestern und dem Morgen.“ Alles, was ein Mensch auf dieser Erde geschaffen hat, habe nur einen Fortbestand, wenn es von anderen belebt und weitergetragen werde.

Ulf Merbold, der die außerordentliche Möglichkeit hatte, unsere Erde im Ganzen sehen zu dürfen, sieht uns alle in der Pflicht: „Es kann nicht angehen, dass wir uns komfortabel einrichten und den Noch-nicht-Geborenen unsere Altlasten hinterlassen. Wir alle, die wir hier und jetzt leben, müssen eine ethische Pflicht akzeptieren, diesen Planet für unsere Nachkommen in einem intakten Zustand zu erhalten.“

Wim Wenders erhofft sich, dass sein Werk irgendwann allen gehört. Der Filmemacher möchte in freundlicher Erinnerung bleiben. „Die wesentliche Form, in der jemand nach dem Tod erhalten bleibt, liegt im Gedächtnis anderer. Wie man in der Erinnerung der Menschen, die einem wichtig waren, weiterlebt, das ist wichtiger als alles andere, was man hinterlässt.

„Was anderes soll bleiben, als Erinnerung?“, resümiert Medizin-Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard. „Anders als bei einem Komponisten, dessen Werk immer mit ihm verbunden bleibt, werden wissenschaftliche Erkenntnisse irgendwann Allgemeingut. Sie tragen zu unser aller Wissen bei. Das besteht weiter. Aber wer es entdeckt hat, ist irgendwann egal.“

Günter Grass fragt sich, was von all seinen Büchern bleiben wird in einer Zeit, in der es immer weniger Leser gibt. „Ohne Leser ist das Buch ein lebloser Gegenstand, in Regale gestapelt und gereiht“, so der Literatur-Nobelpreisträger. „Wenn es mir gelungen ist, zwei, drei Bücher geschrieben zu haben, die auch in späteren Zeiten in die Hand genommen werden, dann ist das schon was.“

Schauspieler Dieter Mann war sich im Interview sicher, was die Zeiten überdauert. Es sei kein Zufall, dass etwa Sophokles‘ „Antigone“ bis heute gültig sei. Es seien immer die gleichen grundsätzlichen Fragen, die die Menschen bewegten: „Macht, Menschlichkeit, Liebe, Hass, Leidenschaft, Leben schlechthin bleiben unverändert. Gute Stücke haben immer eine Bedeutung.“ Allerdings käme es heute darauf an, sie so zu spielen, dass sie uns in unserer Zeit berühren. Er hoffte: „Wenn ich es geschafft habe, Menschen in die Lage zu versetzen, das Wesentliche zu erkennen, ist das etwas sehr Schönes!“

Obwohl bedeutend in ihren persönlichen Lebensleistungen, vermitteln alle elf Portraitierten Bescheidenheit, fast Demut. Denn sie verstehen sich und ihre Leistungen als Teil eines großen Ganzen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie sind nicht wehmütig, sondern lebensbejahend: Sie denken nicht allein an das eigene Leben, sondern über sich hinaus. Das ist ein schöner Gedanke. Er spiegelt sich sowohl in den Texten als auch in den Fotografien wider – ein Fotoessay, das berührt, innehalten lässt und Raum für eigene Gedanken eröffnet.

Unterm Strich: In einer Welt ohne Werte gäbe es die Frage „Was bleibt?“ nicht.

Alle Überlegungen haben eine weitere tiefe Gemeinsamkeit: Ein Leben nach dem Tod wird eine Frage der Moral. Wäre nach dem Tod das bloße Nichts, dann liefen ein gutes und ein schlechtes Leben auf dasselbe hinaus. Dazu sagen alle von uns Befragten: „Nein!“ Alle empfinden sich nicht als jemand Besonderen, sondern als jemanden, der das ihm Mögliche tut. Und immer sind es die großen Werte, die sie umtreiben: Erkenntnisse gewinnen, nicht Ruhe geben, Verantwortung für sich und andere tragen, Herausforderungen bestehen, eine Aufgabe annehmen, an die eigenen Überzeugungen glauben und diese auch gegen Widerstände leben.

In einer Welt ohne Werte – die sich keiner von ihnen vorstellen mag – gäbe es kein Interesse an der Frage „Was bleibt?“. Indem man seine Werte lebt, danach handelt und sie an andere weitergibt, werden diese aufgenommen und überleben die eigene Zeit. Alle Portraitierten versuchen die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Sie alle handeln im Leben, nicht als „Gutmenschen“, sondern schlicht als „gute Menschen“.

Ein Mensch lebt weiter in seinen Werten und den Interessen, die er mit anderen teilt. Wir teilen unser Wissen und unsere Verantwortung. Damit schaffen wir Bleibendes. Immer wieder neu. Das ist das letzte Geschenk an die Welt. Das ist „Das Prinzip Apfelbaum“.

Für die Presse